Das Antoniloch
Östlich der ehemaligen Kommende von Reiden erhebt sich der bewaldete Lusberg, der in seine wenige Meter hohen Sandsteinfluh eine kleine Höhle, welche als so genanntes Antoniloch bekannt ist, hauste einst ein Sonderling Namens Anton. Er war von krüppelhafter Gestalt und hatte auf seinem kurz gewachsenen Körper einen übergrossen, hässlichen Kopf mit Schlitzaugen, Hakennase und struppigem Bart. Weil er wegen seines zu kurzen linken Beines sich nur humpelnd fortbewegen konnte, glich er eher einem Ungeheuer als einem Mensch. Ganz im Gegensatz zu seinem abstossenden Äusseren aber war sein Inneres. Er war nämlich überaus friedlich und gutmütig, tat niemandem etwas zuleide, und wenn er was öfters vor kam verspottet wurde, machte er sich nichts daraus. Mit Müh und Not ernährte er sich vom kleine Gemüsegarten, den er vor seiner Höhle angelegt hatte, und von der Ziege, die er sich auf der Waldwiese hielt. Um etwas dazuzuverdienen. Ging er öfters nach Reiden, um dort auf der Kegelbahn den Spielern die Kegel aufzustellen. Die jungen Burschen machten sich dabei einen besonderen Spass daraus, ihm zwischendurch Brot- und Fleischreste zu zuwerfen, welche Anton geschickt auffing und in seine Tasche steckte. An einem Dezemberabend vergnügten sich ein paar Reider Burschen beim Kegeln. Je länger sie spielten und je mehr sie tranken, desto ausgelassener wurden sie. Da beschlossen sie, Anton der ihnen wie üblich die Kegel aufstellte, einen ganz besonderen Streich zu spielen. Sie überredeten das Mädchen, das ihnen die Getränke ausgeschenkt hatte, sich als Hexe zu verkleiden und dem Sonderling auf dem Heimweg aufzulauern. Nachdem die Burschen um Mitternacht ihr Spiel beendet hatten, machte sich Anton auf den Heimweg, der hinter der Kommende über die Weihermatte an Fischteichen vorbeiführte. Plötzlich sprang ihm das als Hexe verkleidete Mädchen in den Weg, umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: "Ich liebe dich, du junger schöner Mann!" und wollte ihn küssen. Der zutiefst erschrockene Anton setzte sich gegen die vermeintliche Hexe zur Wehr, löste sich aus ihrer Umklammerung und stiess sie in den Fischteich, wo sie im eiskalten Wasser versank. So schnell er konnte, eilte Anton in seine Wohnhöhle. Die Burschen, die den üblen Scherz ausgeheckt hatten, warteten vergeblich auf die Rückkehr der falschen Hexe. Allmählich bekamen sie es mit der Angst zu tun und begannen nach ihr zu suchen. Als sie sie nirgends fanden, kehrten sie mit schlechtem Gewissen nach Hause zurück. In der Nacht wurden sie von derart starkem Fieber gepackt, dass die drei Rädelsführer daran starben. Am andern Tag beteiligte sich das ganze Dorf an der Suche nach dem vermissten Mädchen. Niemandem kam es in den Sinn, in den Fischteichen nach zuschauen, weil diese in der Zwischenzeit zugefroren waren. Als der bedeckte Himmel sich auftat, sahen sie eine weisse Wolke wie eine Rauchsäule über dem Antoniloch schweben. Schnell stiegen ein paar beherzte Männer zur Wohnhöhle hinauf, fanden aber nur einen Haufen Asche vor der leeren Höhle. Auch der Sonderling Anton blieb spurlos verschwunden. Das kleine Stück Land vor der Höhle, das Anton bisher unentgeltlich hatte für sich bewirtschaften können, wurde drei bedürftigen Brüdern aus Reiden übergeben. Als diese im Herbst Kartoffeln ernteten, erschien wieder diese seltsame weisse Wolke, die sich über dem Antoniloch nieder senkte. Erschrocken eilten die Brüder zum nächsten Hof und berichteten von der gespenstischen Erscheinung. Entschlossen nahm der Bauer sein Gewehr zur Hand und begab sich zur Höhle. Als er dort ankam, war die Wolke wieder verschwunden. Da kniete er nieder, sprach ein Gebet und feuerte dreimal in die Höhle. Seither ist die weisse Wolke nie mehr über dem Antoniloch gesehen worden. Im Gegensatz zum Sonderling Anton hat man vom Mädchen, das sich verkleidet hatte, in späterer Zeit Spuren gefunden. Etwa hundert Jahre nach ihrem Verschwinden sind die Fischteiche abgegraben worden, und dabei ist ihr Gerippe zum Vorschein gekommen.