Geschichtliches über den Liberalismus
Von Otto Schnyder, Lehrer, Reiden 1934
Es sind nun bald 350 Jahre verflossen, dass Karl Borromäus Erzbischof von Mailand, unter 7 Kantonen den borromäischen oder goldenen Bund stiftete, der sich zur Aufgabe setzte, vom wahren katholischen Glauben Abfallende zur Rückkehr zu gewinnen und sich untereinander Bundeshilfe zu leisten. Dieser erste Sonderbund zerstörte nach und nach die Heiligkeit der alten eidgenössischen Bünde, wurde zur Quelle unaufhörlichen Haders, machte gemeinschaftliches, einiges Handeln unmöglich und brachte die Eidgenossenschaft um ihre hohe Bedeutung und Achtung unter den benachbarten Völkern. Die letzte Heldenkraft hauchte sich auf fremden Schlachtfeldern in fremden Söldnerdienst aus! In diesen traurigen Jahrhunderten ist keine grosse Tat, kein geistiges Fortschreiten ersichtlich. Überall stösst man auf Bestechung, Unterdrückung, Neid und Bürgerkrieg.
Dir traurigen Tage von Kappel und Villmergen sind die einzigen grössern Waffentaten in dieser Zeit. Nicht die Tugend und Weisheit der Bürger, sondern nur die gütige Vorsehung Gottes hat uns vor dem drohenden Untergange gerettet. Da überzogen die republikanischen Heere Frankreichs unser Vaterland mit Krieg. Das morsche, längst schon fast aus allen Fugen gewichene Gebäude fiel nach schwachem vereinzeltem Widerstande zusammen. Nur in wenigen Gefechten zeigte sich, dass der alte Heldenmut noch nicht ganz aus unserem Volke gewichen war. Ca. 100 Jahre sind es nun, da zog ein neuer Völkerfrühling ein. Kanton um Kanton schüttelte das auflastende Joch ab und grub aus Schutt und Trümmern die bürgerliche Freiheit, die unverjährbaren Menschenrechte hervor. Aber noch immer nicht wollten einzelne Glieder sich zum harmonischen Ganzen vereinen. Der eidgenössische Bund war und kraftlos, die Tagsatzung das traurige Bild des Unvermögens. Die Tradition des alten borromäischen Bundes setzte mit unermüdlicher Tätigkeit seine Maulwurfsarbeit fort. Der Hass der beiden christlichen Konfessionen, der erloschen schien, wurde aufs Neue entfacht. Ehrgeizige Führer der Freisinnigen erlagen den verführerischen Verlockungen und wurden Abtrünnige und Verräter an der Sache der Volksfreiheit. Ein katholischer Kanton nach dem andern fiel unterwühlt zusammen, so Freiburg, Wallis, Zug und endlich auch der Vorort Luzern.
Einzig Solothurn, wenn auch untergraben, blieb aufrecht stehen. Selbst in den reformierten Kantonen fanden sie Freunde und Helfer. Die Reaktion erhob überall ihr Haupt! Versuche, eine festere Bundesverfassung zur Annahme zu bringen schlug fehl! Die Schweiz ging raschen Schrittes ihrer Auflösung entgegen. Alle Aufmerksamkeit richtete sich ängstlich auf die versammelte Tagsatzung, aber im bedenklichsten Moment ging sie rat- und tatlos auseinander. Keine Kantonsregierung brachte den Mut auf, sich an die Spitze des in Schmerz und Entrüstung aufschreienden Schweizervolkes zu stellen. Da schritten entschlossene Patrioten herzhaft zur Selbsthilfe. Sie rüsteten sich aus eigenen Mitteln und brachten freudig und unverzagt Hab und Gut. Blut und Leben auf den Altar des Vaterlandes. So entstanden die Freischarenzüge.
Der erste Freischarenzug.
Der erste Freischarenzug, zu dem sich erhebliche Stadtluzerner das Zeichen gaben, brach am 8. Dezember 1844 los. Die Vorbereitung und Organisation liess aber vieles zu wünschen übrig. Der Aufstand, der zu wenig ernstlich und nachdrücklich versucht wurde, misslang. Eine weit vorgeschobene Vorhut, bestehend aus 100 Aargauern, bestand ein Gefecht gegen Luzernertruppen an der Emmenbrücke. Auf die Kunde vom missglückten Aufstand in der Stadt zogen die Zuzüger, worunter namentlich die vom Suhrental, in einer Stärke von 600 – 700 Mann anrückende Kolonne, ohne wesentliche Verlust nach Hause zurück. Die Folgen dieses ersten Freischarenzuges blieben nicht aus. Dir Position der Jesuitenregierung wurde gefestigt. Eine leidenschaftliche Verfolgung der Liberalen trat ein, bei der weit über 1000 aus der Heimat flüchten mussten. Luzern und seine Bundesgenossen rüsteten ihr Militär besser aus.
Der zweite Freischarenzug
Die aufrichtige Teilnahme am traurigen Schicksal der flüchtigen Luzerner, die Ratlosigkeit der Tagsatzung, das Gefühl, es müsse um jeden Preis dem länger nicht mehr zu ertragenden Zustande ein Ende bereitet werden, riefen den zweiten Freischarenzug hervor.
Am 30. März 1845 sammelten sich die Aargauer, Basellandschäftler, eine Abteilung Solothurner und die Luzerner in Zofingen. Die Berner, der grössere Teil der Solothurner und der kleinere von Luzern in Huttwil. Das Heer bestand aus 1100 Aargauer, 1060 Luzerner, 374 Baselland, 713 Berner, 250 Solothurner und 100 aus den übrigen Kantonen. Im Ganzen waren es also 3600 Mann mit 10 Geschützen, einer Abteilung Berittener und sonstiger Ausrüstung, die unter dem Befehl des Hauptmanns Ulrich Ochsenbein, Nidau, standen. Die Bewaffnung war nur teilweise; die Organisation, durch die herrschenden Umstände bedingt, liess viel zu wünschen übrig. Eine grosse Zahl, die keine Ahnung im Umgang mit Waffen und von militärischer Disziplin hatten, verstärkten wohl die Zahl, aber schwerlich die eigentliche Macht der kleinen Armee. Aber ein nach allgemeinem Urteil gut entworfener Kriegsplan lag dem Unternehmen zu Grunde.
Diesen unsern Streitkräften hatte Luzern mit seinen Bundesgenossen, die ihm zu Hilfe zogen, 14000 entgegenzustellen. Der Oberbefehl über die Regierungstruppen wurde General Ludwig von Sonnenberg übertragen. Das generische Heer setzte sich zusammenaus 8000 Mann gut organisierter und instruierter Truppen, 6000 Mann Landsturm und 4 bespannten Batterien Artillerie. In der Nacht vom 30. Auf den 31. März rückten die Freischaren – die grössere Kolonne von Zofingen, die kleinere von Huttwil aus – in den Kanton Luzern. In Ettiswil treffen beide Kolonnen zusammen. Von hier aus marschieren sie vereint Hellbühl zu. Aber - die grosse Enttäuschung – die Dörfer sind entvölkert, der erwartete Zuzug bleibt aus. In Ruswil wird eine der Besatzung zurückgelassen, ebenso in Hellbühl. Beim erstgenannten Dorfe stossen unsere Streitkräfte auf den Landsturm. Eine Stunde weiter bestehen sie das erste Gefecht gegen reguläre Truppen. Bald ist aber der Feind zersprengt und in die Flucht getrieben. Unterhalb Hellbühl trennt sich der linke Flügel, ungefähr 1000 Mann stark, von der Hauptmacht, um seine Aufgabe bei der Emmenbrücke zu lösen, während, die übrige Schar gegen die Torbergbrücke vorrückte, den Übergang erzwingt und nach Vertreibung der Feinde der Höhe von Littau bemächtigt. Eine Abteilung von 4 Kompanien erhält Befehl, über den Sonnenberg vorzumarschieren und den Gütsch zu besetzen. Unterdessen marschiert nun der Rest mit sämtlichen Geschützen auf der Entlebucherstrasse, bei einbrechender Nacht vor Luzern. Somit wäre das Ziel im langem, mühevollem Marsche erreicht und der Operationsplan in seiner Hauptbestimmung ausgeführt. Aber in dem Augenblicke, wo der Sieg gesichert scheint, verwandelt er sich auch schon in eine Niederlage. Als natürliche Ursachen dieses Umstandes erscheinen: Das mehrstündige zu späte Eintreffen in Luzern, der Einbruch der sehr finstern und kalten Nacht, die körperliche Erschöpfung, der Mangel an Disziplin, Gehorsam und Bildung eines Teiles der Mannschaft.
Infolge der einbrechenden Nacht und der grossen Erschöpfung der Mannschaft beschloss Ochsenbein, den Sturm auf die Stadt auf den nächsten Tag zu verschieben. Inzwischen hatte nun aber Luzern Zeit, von der Innerschweiz Hilfstruppen heranzuziehen. Als dann plötzlich in der pechschwarzen Nacht bei den Vorposten einige Schüsse fielen, glaubten sich die Freischaren von den regulären Truppen überfallen. Zeitlebens unvergesslich wird für alle diese dunkle Nacht der Verwirrung, der Auflösung und der Flucht gewesen sein. Der linke Flügel kehrt unverrichteter Dinge von der Emmenbrücke nach Hellbühl zurück. Die überhandnehmende Desorganisation zwingt ihn nach dem er zu Buttisholz seine Waffenehre gerettet hat, zu einem verfrühten Rückzug über die Grenze. Die 4 Kompagnien vermochten in der dunklen Nacht den Gütsch nicht mehr zu besetzen und blieben ohne Verbindung und Nachricht von der Hauptmacht abgeschnitten. Am 1. April kämpften aber diese Männer noch wohlgeordnet und standhaft, aber hoffnungslos gegen den überlegenen Feind. Ein grosser Teil gelangte zu Tode ermattet, nach unaussprechlichen Anstrengungen und Entbehrungen erst in der folgenden Nacht auf schützenden Bernerboden zurück.
Den grössten Verlust erlitt die Hauptkolonne, die ihren Rückzug über Malters nahm. Malters sah unsere Freunde anstürmen, um den Durchbruch zu erzwingen, es sah das fruchtbare Gemetzel, hörte den Donner der Geschütze, das Geschrei der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden, dazwischen das Geheul der Sturmglocken.
Der zweite Freischarenzug hatte sein blutiges Ende erreicht. Viele, die am Tage vorher hoffungsvoll und mutig in den Kampf gezogen waren, hatte das Verhängnis auf dem Schlachtfelde ereilt. Endlose Reihen, worunter viele Verwundete, werden als Gefangene fortgeschleppt. Die Übrigen, kaum die Hälfte wankten besiegt, zu Tode erschöpft der heimatlichen Grenze zu. – Alls verloren, alles! – Doch nein, der da droben, der in seine Güte und Weisheit die Schicksale der Menschen und Völker lenkt, hat alles wieder zum Guten gewendet; aus der Niederlage erwuchs der Sieg, aus Untergang und Tod erblühte neues Leben. 105 überzeugte Freischärler haben, für ihr gutes Recht kämpfend, auf dem Schlachtfeld ihr Blut vergossen. Die Opfer verteilen sich nach Kantone wie folgt: Luzern 25; Aargau 54; Baselland 13; Bern 11; Solothurn 1; aus dem Kanton Luzern: Häfliger Johann, Zimmermann, Reiden; Häfliger Jakob, Landarbeiter, Reiden; Weber Johann, Reidermoos; Kaufmann Jakob, Ererziermeister, Wikon; Waller Vinzenz, Zimmermann, Pfaffnau; Scheidegger Josef, Maurer, Pfaffnau; Meier Josef, Wirt, Dagmersellen; Krähenbühl Johann, Dagmersellen; Häberlin Johann, Arzt Altishofen; Fellmann Xaver Buchs: Baumann Jakob, Weber, Ettiswil; Zwiggi Leonz, Metzger, Alberswil; Huber Johann, Landarbeiter Altbüron; Menz Alois, Maurer, Willisau; Pfenninger Xaver, Handelsmann, Büron; Pfenninger Josef, Weber, Büron; Winiker Josef, Weber, Triengen; Fries Alois, Landarbeiter, Triengen; Rüttimann Ludwig, Taglöhner, Sursee; Bokas Alexander, Messerschmid, Sursee; Schmidlin Fridolin, Advokat, Ruswil; Stählin Urban, Lehrer, Rickenbach; Büchli Anton, Metzger, Hitzkirch; Willimann Philipp, Zeichnungslehrer, Luzern.
Sie alle, die 105, deren erschlagene Leiber in kühler Erde ruhen, sind für das Vaterland, für die Sache der Menschheit in ehrenhaftem Kampfe gefallen. Wir eure Söhne, tragen euer Andenken treu im Herzen. Wir geloben feierlich, euer Blut soll nicht fruchtlos vergossen sein, wir wollen den heiligen Boden des Schweizerlandes, den auch ihr mit eurem Blut getränkt habt, treu und mutig schirmen gegen die Rückkehr jener finstern Macht, der ihr erlagt.
Wenn auch der Ausgang der Freischarenzüge unglücklich waren, desto segensreicher waren die Folgen. Drei Jahre nachher war der Fried und die Einigkeit hergestellt, der neue Schweizerbund geschlossen. Mit tiefer Kenntnis der Anschauungen und Bedürfnisse unseres Volkes wurde die Bundesverfassung entworfen. Jubelnd hat das Schweizervolk sie als Grundlage des öffentlichen Lebens bestätigt. Wir wollen sie entwickeln, ausbauen, der fortschreitender Zeit anpassen, aber ihre Grundzüge stets in Ehren halten, und es werden noch Kind und Kindeskind glücklich unter ihrem Schatten wohnen.
Zum Autor:
Otto Schnyder, Sek- Lehrer,
Gemeindepräsident von Kriens 1950 - 1973
geboren 1913 in Reiden, gestorben 1996